Sigd: Ein Tag der Erinnerung, der Rückkehr – und ein stiller Ruf nach Einheit in Israel
Am Sigd versammelt sich die äthiopisch-jüdische Gemeinschaft in Jerusalem, um ihren jahrhundertealten Bund zu erneuern. Was wie ein traditioneller Festtag wirkt, erzählt in Wahrheit die Geschichte eines Volkes, das sich seine Identität im Exil bewahrt hat – und Israel daran erinnert, was Bindung, Glaube und Heimat bedeuten.

Die Stille des 19. November täuscht. Während Israel im Alltag zwischen politischen Spannungen, Sicherheitsbedrohungen und gesellschaftlichen Herausforderungen taumelt, richtet eine jahrtausendealte Tradition den Blick auf etwas Fundamentaleres: auf die Kraft eines Volkes, das sich trotz Entwurzelung, Diskriminierung und Exil nie von Zion löste.
Sigd, der nationale Feiertag der äthiopisch-jüdischen Gemeinschaft, ist kein lauter Tag. Er ist ein Tag des Innehaltens – getragen von Gebeten, Toralesungen und einem tiefen Ausdruck von Sehnsucht. Genau fünfzig Tage nach Jom Kippur steigt die Gemeinschaft der Beta Israel traditionell auf den Hügel Armon HaNatziv über Jerusalem, dorthin, wo einst der Blick Richtung Tempel möglich war. Heute wie früher knien dort die Kessim – die religiösen Führer – und erneuern den Bund mit Gott und mit Eretz Israel.
Die Bedeutung eines Feiertags, der mehr sagt als Worte
Sigd ist kein Folklore-Termin und keine Randnotiz im jüdischen Kalender. Der Feiertag offenbart, wie viel eine Gemeinschaft bewahren kann – selbst über Generationen, fernab der Heimat. Für die Beta Israel bedeutete Sigd nie nur religiöse Einkehr, sondern ein aktives Erinnern: an Jerusalem, an die Torah, an die Rückkehr.
Als Israel 2008 beschloss, Sigd als offiziellen Nationalfeiertag anzuerkennen, war das mehr als ein symbolischer Akt. Es war die verspätete Anerkennung eines jahrhundertelangen Treueversprechens, das diese Gemeinschaft getragen hatte, während viele in der jüdischen Welt längst den Kontakt zu ihr verloren hatten. Der Feiertag wuchs seitdem über die Grenzen der äthiopischen Gemeinschaft hinaus – zu einem Tag, der Israel erinnert: Die Identität dieses Landes ist vielfältig und dennoch zutiefst verbunden.
Ein Fest zwischen Tradition, Schmerz und Hoffnung
Sigd ist auch ein Tag, an dem die äthiopisch-jüdische Gemeinschaft ihre Stimmen erhebt: gegen Rassismus, gegen institutionelle Ungleichheit, gegen das Vergessen jener, die auf der Flucht nach Israel starben. Für viele Familien bleibt der Weg durch den Sudan ein Trauma, das jedes Jahr am Sigd spürbar wird.
Und dennoch – oder gerade deshalb – ist der Feiertag ein Tag des Stolzes. Junge Israelis äthiopischer Herkunft stehen Schulter an Schulter mit ihren Großeltern, singen Psalmen und blicken auf ein Jerusalem, das für ihre Vorfahren jahrhundertelang nur ein Gebet war.
Warum dieser Tag heute wichtiger ist als je zuvor
Israel erlebt Momente der Spaltung. Gesellschaftliche Risse, politische Härte, religiöse Kämpfe – alles droht, die gemeinsame Identität zu unterminieren. Doch Sigd zeigt, dass ein Volk stärker ist als seine Bruchlinien, wenn es seine Wurzeln kennt und seine Vielfalt als Stärke begreift.
Der Feiertag ist ein stiller Weckruf: Einheit bedeutet nicht Gleichheit. Sie bedeutet Respekt, Verständnis und Anerkennung der Geschichte aller, die Teil Israels sind.
Während die Kessim am 19. November ihren Segen über die Stadt sprechen, entsteht ein seltenes Gefühl der Klarheit. Jerusalem wirkt in diesen Stunden nicht wie ein Zankapfel der Weltpolitik, sondern wie der Mittelpunkt eines spirituellen Versprechens, das die Beta Israel über Jahrhunderte getragen hat – und das Israel heute neu begreifen muss.
Ein Fest der Rückkehr – und der Verantwortung
Sigd ist mehr als ein Blick in die Vergangenheit. Er ist ein Appell an Israel, Verantwortung zu übernehmen: für Integration ohne Herablassung, für Erinnerung ohne romantische Mythen, für ein Zusammenleben ohne Ausgrenzung. Die Geschichte der äthiopischen Juden zeigt, was Loyalität, Glaube und Opferbereitschaft bedeuten.
Der Feiertag vom 19. November erinnert daran, dass kein Teil des jüdischen Volkes unsichtbar bleiben darf. Und dass Israel – bei allen Schwierigkeiten – Heimat ist. Eine Heimat, für die Menschen gebetet, gelitten und gehofft haben.
Wer Sigd versteht, versteht ein Stück dessen, was Israel zusammenhält.
Autor: Redaktion
Bild Quelle: Symbolbild KI generiert
Artikel veröffentlicht am: Mittwoch, 19. November 2025