Wenn Verantwortung verhandelbar wird – Merz, die Staatsräson und das bröckelnde Versprechen an Israels Sicherheit


Friedrich Merz löst mit seinen Äußerungen zur Staatsräson weit mehr aus als eine semantische Debatte. In einer Zeit, in der antisemitische Gewalt in Deutschland explodiert, klingt sein „situationsabhängiger“ Kurs wie eine kalte Rücknahme einer historischen Verpflichtung – und sendet ein fatales Signal an jene, die längst wieder Hass normalisieren.

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Es war ein Satz, der eigentlich technokratisch klang – und doch ein Beben auslöste: Bundeskanzler Friedrich Merz sagte, er habe sich „mit dem Begriff der Staatsräson immer schwergetan“. Auf den ersten Blick eine sprachliche Feinheit, auf den zweiten ein Bruch mit einer der klarsten Linien deutscher Außenpolitik seit 1949.

Seit Angela Merkel 2008 in der Knesset erklärte, Israels Sicherheit sei deutsche Staatsräson, galt das nicht als Frage der Opportunität, sondern als moralisches Fundament: eine Verpflichtung, die nicht „neu zu bewerten“ ist, sondern aus der Geschichte erwächst.

Merz formuliert nun anders. Er spricht von einer situationsabhängigen Bewertung – von einer Pflicht, die „im Lichte der Lage im Nahen Osten“ immer wieder neu definiert werden müsse. Damit verwandelt er einen Grundsatz in ein Abwägungsgeschäft.

Von Verantwortung zu Verfügbarkeit

„Situationsabhängig“ – das klingt nüchtern, fast diplomatisch. Doch in der Praxis heißt es:
Was früher eine klare Linie war, wird nun zur politischen Variable.
Wenn es ökonomisch, diplomatisch oder stimmungspolitisch passt, steht Deutschland fest an Israels Seite.
Wenn es unbequem wird – wenn Proteste toben, Handelsinteressen drohen oder Meinungsumfragen kippen – kann die Haltung relativiert werden.

Genau hier liegt das Problem: Eine Verantwortung, die vom Wetterbericht der Weltpolitik abhängt, ist keine Verantwortung mehr.

Kaum hatte Merz seine Distanzierung ausgesprochen, meldeten sich Vertreter jüdischer Organisationen zu Wort – mit deutlicher Kritik. Die Deutsch-Israelische Gesellschaft (DIG) sprach von einem bedenklichen Signal der Schwäche. Ihr Präsident Volker Beck sagte, der Kanzler gebe „jenen ohne Not diskursiv recht, die sich grundsätzlich an jeder Bekräftigung von Deutschlands Verantwortung für Israels Sicherheit stören“.

Beck erinnerte daran, dass Staatsräson kein politisches Schlagwort, sondern ein ethisches Gelöbnis sei – und warnte, Merz öffne „eine Tür, durch die die Relativierer der Vergangenheit gerne gehen“.

Während Merz die Begrifflichkeit verschiebt, verändert sich das Klima im Land. Antisemitische Angriffe haben zugenommen, jüdische Gemeinden berichten von Angst und Rückzug. Rabbiner werden auf offener Straße bespuckt, Synagogen stehen unter Dauerbewachung, Kinder werden in Schulen gemobbt, weil sie jüdisch sind.

In dieser Atmosphäre wirkt ein Kanzlerwort nicht wie eine akademische Nuance, sondern wie ein Signal:
Wenn die Bundesregierung selbst beginnt, ihre Haltung zu Israel zu relativieren, fühlen sich jene bestärkt, die das längst tun – von radikalen Hamas-Anhängern über israelfeindliche Aktivisten bis hin zu ganz gewöhnlichen Antisemiten, die glauben, ihre Feindbilder seien wieder gesellschaftsfähig.

Vertreter jüdischer Gemeinden berichten inzwischen, dass immer mehr Mitglieder über Auswanderung nachdenken. Nicht, weil sie Israel politisch instrumentalisieren wollen, sondern weil sie den Eindruck haben, dass jüdisches Leben in Deutschland nicht mehr selbstverständlich geschützt wird – sondern nur, solange es „passt“.

Angela Merkels Satz von 2008 war keine Floskel, sondern ein Gelöbnis. Er stand für das, was Deutschland sein wollte: ein Staat, der seine Schuld nicht vergisst und daraus eine bleibende Verantwortung formt.

Friedrich Merz’ neue Formel löst dieses Gelöbnis auf. Er sagt nicht: Wir kehren Israel den Rücken. Aber er sagt: Wir behalten uns vor, es zu tun, wenn die Umstände es erfordern. Das ist keine außenpolitische Feinjustierung – das ist eine kulturelle Zäsur.

Denn die Sicherheit Israels ist nicht irgendeine außenpolitische Position. 

Die politische Logik hinter Merz’ Aussage ist durchsichtig: Er will Handlungsspielräume. Er möchte Deutschland als Akteur zeigen, der seine Haltung nicht automatisch, sondern souverän wählt. Doch Souveränität ohne Verlässlichkeit wird zur Kälte. Und genau diese Kälte spüren heute viele Jüdinnen und Juden in Deutschland.

Man kann Verantwortung nicht „situationsabhängig“ leben, so wie man eine Steuerpolitik anpasst. Wer die Staatsräson relativiert, sendet eine Botschaft, die weit über Diplomatie hinausgeht:
dass das Versprechen an das jüdische Volk – „Nie wieder“ – unter Vorbehalt steht.

Natürlich kann kein Staat blind Loyalität schwören. Politik verlangt Abwägung. Aber es gibt Grundsätze, die nicht verhandelbar sind. Die deutsche Verantwortung gegenüber Israel gehört dazu.

Wenn diese Verantwortung zur Frage politischer Zweckmäßigkeit wird, dann ist nicht nur das Verhältnis zu Israel erschüttert, sondern auch der moralische Kompass eines Landes, das einst versprach, dass jüdisches Leben in Deutschland nie wieder abhängig sein würde von der jeweiligen „Lage“.

Autor: Andeas Krüger
Bild Quelle: Von Steffen Prößdorf, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=151722057

Artikel veröffentlicht am: Sonntag, 19. Oktober 2025

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