Opposition hinter Gittern – wie Erdoğan seine stärksten Gegner ausschaltet


Ekrem İmamoğlu galt als Hoffnungsträger der türkischen Demokratie. Jetzt sitzt er im Gefängnis – zum zweiten Mal. Die Justiz verhängt eine Haftstrafe nach der anderen, während Erdoğan schweigt und sein Apparat zuschlägt. Der neue Schuldspruch ist nicht nur ein Angriff auf einen Mann, sondern auf das, was von der türkischen Opposition überhaupt noch übrig ist.

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Ein Jahr und acht Monate Haft – diesmal wegen Beleidigung und Einschüchterung eines Staatsanwalts. So lautet das Urteil gegen Ekrem İmamoÄŸlu, den gewählten Bürgermeister Istanbuls, der seit März in Untersuchungshaft sitzt. Offiziell geht es um ein Wortgefecht, das İmamoÄŸlu sich nach dem Sturm auf das Haus eines CHP-Nachwuchspolitikers erlaubt haben soll. In Wahrheit geht es um Macht. Um das Präsidentenamt 2028. Und darum, wie eine angeschlagene Autokratie alles daran setzt, ihren schärfsten Widersacher mundtot zu machen.

Denn İmamoÄŸlu, einst gefeierter Wahlsieger in Istanbul, war nicht nur ein Lokalpolitiker mit Visionen. Er war – und ist – die ernstzunehmendste Gefahr für Präsident ErdoÄŸan. 2019 besiegte er ErdoÄŸans AKP in ihrer einst uneinnehmbaren Hochburg. Und das gleich doppelt, nachdem die erste Wahl unter fadenscheinigen Vorwürfen annulliert wurde. İmamoÄŸlu gewann auch die Wiederholung. Mit noch größerem Vorsprung. Das verzieh ihm die Macht nie.

Jetzt also der nächste Richterspruch. Und wieder ist das Muster altbekannt: Der Vorwurf – angebliche Beamtenbeleidigung. Die Konsequenz – eine neue Gefängnisstrafe, die zwar formal nicht unbedingt abgesessen werden muss, in ihrer politischen Wirkung aber verheerend ist. Denn sie reiht sich ein in eine Serie juristischer Manöver gegen die größte Oppositionspartei CHP, die seit İmamoÄŸlus Verhaftung im März von einer regelrechten Säuberungswelle betroffen ist. Bürgermeister werden abgesetzt, Parteibüros durchsucht, Kandidaten verhaftet. Wer sich ErdoÄŸan entgegenstellt, bekommt es mit Gerichten zu tun – nicht mit dem politischen Wettbewerb.

İmamoÄŸlu selbst bleibt kämpferisch. Er bezeichnet die Prozesse als Farce und politischen Missbrauch. Er betont, dass er weiterhin kandidieren will – bei der Präsidentenwahl 2028, für die ihn die CHP bereits nominiert hat. Doch mit jedem neuen Urteil rückt ein Politikverbot näher. Die Drohung schwebt über allem, was er sagt oder plant. Und genau das ist der Zweck der juristischen Dauerbelagerung.

Was hier geschieht, ist mehr als die Kriminalisierung einer einzelnen Person. Es ist die systematische Entkernung der Opposition in der Türkei. Eine Strategie, die ErdoÄŸan nicht erst seit heute verfolgt. Schon nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 wurden tausende Richter, Lehrer, Journalisten und Aktivisten entlassen, verhaftet oder zum Schweigen gebracht. Die Presse ist gleichgeschaltet, die Justiz auf Linie, das Parlament eine leere Hülle.

Doch İmamoÄŸlu war – und ist – ein Symbol dafür, dass es auch anders geht. Dass es Wahlen geben kann, die der Macht gefährlich werden. Dass Menschen eine Alternative wollen. Genau deshalb wird er bekämpft. Nicht, weil er jemanden „beleidigt“ hätte – sondern weil er ein Hoffnungsträger ist. Und Hoffnung ist in autoritären Systemen brandgefährlich.

Die Türkei befindet sich in einer gefährlichen Zwischenphase. Noch gibt es Wahlen, noch gibt es oppositionelle Stimmen – doch sie werden kleiner, leiser, verängstigter. Wenn İmamoÄŸlu tatsächlich dauerhaft politisch ausgeschaltet wird, wenn die CHP in ihrer jetzigen Form zerschlagen wird, dann bleibt wenig übrig von der Illusion einer Demokratie. Dann ist die Türkei ein Staat mit Wahlkabinen, aber ohne Wahl.

Die Reaktion Europas? Leise Empörung, diplomatisches Schulterzucken. Zu wichtig ist ErdoÄŸan als Flüchtlings-Wächter, als NATO-Mitglied, als Gaspartner. Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit sind offenbar verhandelbar – Hauptsache, der Deal stimmt.

İmamoÄŸlu wird auch dieses Urteil anfechten. Wahrscheinlich wird auch dieses Verfahren sich jahrelang hinziehen. Vielleicht wird er erneut kandidieren, vielleicht nie wieder. Aber klar ist: Wer sich ErdoÄŸan in den Weg stellt, wird nicht politisch besiegt – sondern juristisch ausgeschaltet. Es ist Zeit, die Dinge beim Namen zu nennen: Das ist kein Rechtsstaat. Das ist Machterhalt mit den Mitteln der Justiz. Und İmamoÄŸlu ist nicht der erste, der dafür bezahlt. Aber vielleicht der letzte, der dagegen noch aufstehen konnte.

Autor: Redaktion
Bild Quelle: By Hilmi HacaloÄŸlu - https://www.voaturkce.com/a/i%CC%87mamo%C4%9Flu-nun-kampanyas%C4%B1nda-i%CC%87sraf-%C3%B6ne-%C3%A7%C4%B1kacak/4927797.html, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=79157653

Artikel veröffentlicht am: Donnerstag, 17. Juli 2025

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