Netanjahus Koalition übersteht Misstrauensvotum – mit letzter Kraft


Die Auflösung der Knesset ist vorerst vom Tisch – dank rabbinischer Intervention, politischen Deals und Abwesenheit wichtiger Akteure. Doch der Preis dafür könnte hoch sein.

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Die israelische Knesset wird vorerst nicht aufgelöst. In einer dramatischen Nachtsitzung zwischen Mittwoch und Donnerstag scheiterte die Opposition mit ihren Gesetzentwürfen zur Parlamentsauflösung. 61 Abgeordnete stimmten dagegen, nur 53 unterstützten den Antrag. Damit hat die zerbrechliche Regierungskoalition um Benjamin Netanjahu einen weiteren Tag überlebt – allerdings nicht aus eigener Stärke, sondern dank einer Mischung aus politischer Taktik, rabbinischem Druck und dem taktischen Fehlen zentraler Akteure.

Benjamin Netanjahu und Schas-Chef Arie Deri waren während der entscheidenden Abstimmung nicht im Saal. Auch Gesundheitsminister Jitzchak Goldknopf von der ultraorthodoxen Partei „Vereinigtes Tora-Judentum“, der zuvor mit Rücktritt gedroht hatte, wenn der Antrag scheitert, blieb auffallend still – seine Partei, die Agudat Jisrael, war in der gemeinsamen Mitteilung der Koalitionspartner plötzlich nicht mehr vertreten.

Im Hintergrund dieser politischen Choreografie stand ein anderes Machtzentrum: das ultraorthodoxe Rabbinat. Der litauische Oberrabbiner Dov Lando hatte kurz nach Mitternacht erklärt, die Abstimmung über die Auflösung solle um eine Woche verschoben werden – und instruierte seine Parteivertreter, gegen den Antrag zu stimmen. Damit war die Abstimmung entschieden, noch bevor sie begonnen hatte.

Rabbinischer Einfluss ersetzt Regierungsdisziplin

Der Grund für den rabbinischen Aufruf: ein in letzter Minute gefundener Kompromiss zur Neuregelung des umstrittenen Wehrdienstgesetzes. Seit Jahrzehnten beschäftigt der Streit um die Wehrpflicht für ultraorthodoxe Jeschiwa-Studenten die israelische Gesellschaft – und untergräbt das Gleichgewicht zwischen säkularen und religiösen Bürgern. Die Ultraorthodoxen bestehen darauf, weiter vom Dienst ausgenommen zu bleiben; viele andere Israelis empfinden das als ungerecht.

Knessetmitglied Juli Edelstein, Vorsitzender des Auswärtigen- und Verteidigungsausschusses, erklärte noch in der Nacht, man habe sich auf Grundprinzipien eines neuen Gesetzesentwurfs geeinigt. Es sei ein „historischer Durchbruch“, sagte Edelstein, der sich damit als Architekt eines neuen Kompromisses inszeniert – der allerdings noch gar nicht schriftlich vorliegt. Das Gesetz soll in der kommenden Woche im Ausschuss beraten werden.

Opposition wittert Täuschung – und rechnet ab

Die Opposition ließ keinen Zweifel daran, dass sie den Vorgang als politischen Taschenspielertrick empfindet. Mehrere Oppositionspolitiker warfen der Regierung vor, lediglich Zeit zu gewinnen, um die ultraorthodoxen Parteien durch Zugeständnisse zum Verbleib in der Koalition zu bewegen – ohne echte Bereitschaft zur Lösung des Wehrpflichtkonflikts. Der Vorwurf: Die Koalition benutzt das Gesetz als Erpressungsmittel, um ihr politisches Überleben zu sichern – auf Kosten der Wehrgerechtigkeit und der sozialen Kohäsion.

Die Koalition, so der Tenor, wolle sich von den Ultraorthodoxen einen Freifahrtschein für Gesetzesverzögerungen erkaufen, während säkulare Israelis weiterhin ihren Dienst ableisten müssten – und das in einem Land, das sich im Krieg befindet. Oppositionsführer Jair Lapid sprach von einer „Koalition der 61“, die zwar formal noch eine Mehrheit stelle, aber in Wahrheit keine Richtung mehr habe. „Dies ist nicht die Regierung Israels – dies ist ein Verein zur Selbsterhaltung“, sagte er.

Netanjahus Strategie: Schweigen und Überleben

Bemerkenswert ist die Rolle von Premierminister Benjamin Netanjahu selbst. Während seine Koalition in der schwersten Vertrauenskrise seit Monaten taumelt, bleibt er auffällig zurückhaltend – fast abwesend. Seine Vertrauten verhandelten im Hintergrund mit den Ultraorthodoxen über die Rücknahme von Kürzungen im Sozialbereich und das Aussetzen von Sanktionen. Die Botschaft ist klar: Hauptsache, die Koalition hält.

Doch dieser Preis könnte hoch sein. Innerhalb der Regierung wächst der Unmut, insbesondere zwischen den drei ultraorthodoxen Parteien. Während Schas und Degel HaTora sich auf den rabbinischen Kompromiss einließen, bleibt Agudat Jisrael skeptisch – und fühlt sich übergangen. Der interne Bruch könnte in den kommenden Tagen zu offenen Fliehkräften führen, auch wenn Goldknopf seinen Rücktritt zunächst nicht verkündete.

Eine Woche Atempause – und dann?

Die nächsten Tage werden entscheidend. Die Regierung hat sich eine Woche Zeit erkauft – mehr nicht. In dieser Zeit muss sie nicht nur einen tragfähigen Gesetzesentwurf präsentieren, sondern auch den innerkoalitionären Konsens wiederherstellen. Das ist alles andere als selbstverständlich. Denn sobald klar wird, dass die geplanten Kompromisse lediglich Scheinlösungen sind oder erneut auf Kosten des gesellschaftlichen Zusammenhalts gehen, könnte der rabbinische Schutzschirm reißen.

Und die Opposition wird nicht ruhen. Für sie ist klar: Die Regierung hat ihren moralischen Kredit verspielt. Sollte sich in den kommenden Tagen herausstellen, dass auch dieser Aufschub nur ein weiterer Trick war, wird die nächste Abstimmung zur Parlamentsauflösung nicht so glimpflich für Netanjahu enden. Denn am Ende kann kein Rabbiner die politische Realität dauerhaft aussetzen.

Autor: Redaktion
Bild Quelle: CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=596237

Artikel veröffentlicht am: Donnerstag, 12. Juni 2025

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