Es liegt in Netanjahus Hand – und er zögert
Während Israels Premierminister von Fortschritten spricht, wächst die Ungeduld der Geisel-Familien: Ein Abkommen ist möglich – doch der politische Wille fehlt.

Benjamin Netanjahu steht vor einem Wendepunkt – persönlich, politisch, national. In einem Video auf seinen Social-Media-Kanälen verkündet er Fortschritte im Bemühen, die israelischen Geiseln aus der Gewalt der Hamas freizubekommen. „Es ist zu früh, um Hoffnung zu machen“, sagt er. Doch genau diese Worte entfalten das Gegenteil von dem, was sie beabsichtigen: Sie entmutigen, sie ernüchtern, sie verstärken den Eindruck eines Ministerpräsidenten, der zögert, wo Entschlossenheit nötig wäre.
Die Familien der Geiseln lassen sich davon nicht beeindrucken. Sie reagieren mit Klartext – nicht zum ersten Mal. In ihrer Stellungnahme erinnern sie Netanjahu daran, was längst auf dem Tisch liegt: ein ausverhandelter Deal, unterschriftsreif, sofort umsetzbar. Keine nebulösen Fortschritte, keine PR-getriebene Andeutungen. Sondern ein konkreter Weg, Leben zu retten.
„Der Premierminister könnte morgen früh unterschreiben“, heißt es aus dem Hostage Families Forum. Und das ist keine Metapher. Es ist die bittere Realität in einem Land, das seit Monaten um 120 verschleppte Menschen ringt, von denen laut Berichten noch 55 am Leben sind. Mütter, Väter, Kinder, Ehemänner – Menschen, deren Namen, Gesichter und Geschichten längst zu Symbolen eines nationalen Traumas geworden sind. Ihre Angehörigen betteln nicht mehr. Sie fordern. Und sie haben jedes Recht dazu.
Denn was ist eigentlich das Hindernis? Warum, wenn der Deal ausgehandelt ist, die Hamas laut Vermittlern zur Zustimmung bereit scheint und auch internationale Partner wie Katar ihre Rolle erfüllen, warum bleibt die Tinte auf Netanjahus Stift trocken? Die Antwort darauf liegt nicht in der Komplexität der Verhandlungen, sondern in der Kalkulation der Macht.
Ein Waffenstillstand, wie er laut Informationen Teil des Deals wäre, würde bedeuten, das militärische Momentum im Gazastreifen zu unterbrechen – und damit das politische Narrativ der „totalen Zerschlagung“ der Hamas infrage zu stellen. Es würde auch bedeuten, Kompromisse zu machen mit einem Feind, den Netanjahu selbst seit Jahren mit aufgebaut hat, instrumentalisiert hat, und nun zu vernichten verspricht.
Doch das Narrativ hält keine Familie warm, die nachts auf das Knacken der Haustür hofft. Kein politisches Kalkül ersetzt das menschliche Bedürfnis nach Rückkehr. Und längst ist aus dem Schicksal der Geiseln ein Prüfstein für das moralische Rückgrat der israelischen Regierung geworden. Netanjahu weiß das. Und doch redet er von Fortschritt – nicht von Verantwortung.
Die Familien fordern einen Deal ohne Auswahl. Keine Unterscheidung zwischen Soldatin und Zivilistin, zwischen jüngerem und älterem Leben. Kein „Stückwerk“, kein „wer zuerst“, sondern: alle. Jetzt. Es ist ein Appell an die Menschlichkeit, aber auch ein Aufschrei gegen das, was sie als „Spin“ und „falsche Narrative“ erleben. Die Geiselfamilien sind längst nicht mehr nur Opfer – sie sind das Gewissen der Nation geworden.
Und während Netanjahu in demselben Atemzug ein Treffen mit Argentiniens Präsident Milei ankündigt – „ein wahrer Freund Israels“ –, stellt sich die Frage, ob Freundschaft sich nicht zuerst in der Solidarität mit den eigenen Bürgern zeigt. Jene, die in dunklen Tunneln unter Gaza vegetieren, zählen auf diese Solidarität – nicht auf symbolische Besuche und fromme Worte.
Auch seine Aussagen zum neuen Wehrpflichtgesetz für ultraorthodoxe Männer wirken in diesem Kontext wie aus einer anderen Welt. Der Versuch, den gesellschaftlichen Graben zwischen Haredim und säkularen Israelis zu überbrücken, ist legitim – doch wirkt er fast zynisch, wenn gleichzeitig die Rückkehr der Geiseln weiterhin als vage Aussicht beschrieben wird, nicht als Verpflichtung.
„Wir werden sie zurückholen. Wir werden aufstehen“, schreiben die Familien am Ende ihres Statements. Es ist ein Satz voller Hoffnung – und voller Frustration. Denn was sie meinen, ist klar: Wir, das Volk, werden stehen bleiben, werden nicht weichen, bis ihr es endlich tut. Bis die Regierung ihre Pflicht erfüllt. Bis der Premierminister begreift, dass es nicht um Medienstrategien, sondern um Menschenleben geht.
Die Stunde der Entscheidung ist längst gekommen. Es ist keine Frage der Verhandlungen mehr. Es ist eine Frage des Mutes.
Autor: Redaktion
Artikel veröffentlicht am: Dienstag, 10. Juni 2025