Netanjahus Wettlauf gegen die Uhr: Warum der Premier gar keinen Einberufungsfreistellungsgesetz will – und was die Ultraorthodoxen jetzt tun


Ein drohender Bruch mit den Ultraorthodoxen, innerer Zwist bei „Degel HaTorah“ und ein Premier, der hofft, auf ein ganz anderes Thema in den Wahlkampf zu gehen.

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Die Uhr tickt – und zwar laut. Nicht nach dem jüdischen Kalender, sondern dem politischen. Während Israel noch im Ausnahmezustand lebt, steuert Premierminister Benjamin Netanjahu auf den vielleicht folgenschwersten Bruch seiner jüngeren Amtszeit zu. Der Grund: Das Ultimatum der ultraorthodoxen Parteien, endlich ein Gesetz zur Befreiung vom Wehrdienst für Jeschiwa-Schüler zu verabschieden – und das noch vor dem jüdischen Feiertag Schawuot. Doch Netanjahu weiß, dass dieses Gesetz in seiner jetzigen Koalition nicht mehrheitsfähig ist. Und mehr noch: Er will es gar nicht wirklich.

Der Kampf um die Deutungshoheit

Warum also dieses Ultimatum gerade jetzt? Die Antwort liegt nicht in der Bibel, sondern im Terminkalender. Die ultraorthodoxen Parteien wollten Netanjahu genug Zeit geben, um zumindest den Anschein von Bewegung beim Gesetz zu vermitteln – aber nicht so viel, dass das Sommerplenum ungenutzt verstreicht. Der Druck muss jetzt maximal sein, wenn man den Bruch tatsächlich noch in dieser Legislaturperiode erzwingen will.

Und doch steckt auch Symbolik in diesem Datum: Ausgerechnet zu Schawuot, dem Feiertag, an dem das jüdische Volk die Tora empfing und sich kollektiv zur Einhaltung verpflichtete, weigern sich die Ultraorthodoxen, ihren Teil an der kollektiven Verantwortung für Israels Sicherheit zu tragen. Nicht mehr "Na’aseh veNishma" – "Wir wollen tun und hören", sondern: „Ohne Gesetz kein weiteres Mitmachen“.

Der Vertrauensverlust in Netanjahu ist tief. Ein Teil der Rabbiner glaubt nicht mehr an seine Zusicherungen. Und die Ereignisse überschlagen sich. Erst Anfang der Woche wurde ein psychisch kranker Jeschiwa-Schüler verhaftet, der zur Musterung erschien, um einen offiziellen Freistellungsbescheid zu erhalten. Ein Vorgang, der viele im religiösen Lager als Überschreitung einer roten Linie empfinden.

Risse im Inneren – zwischen den Rabbinerführern

Doch die Spannung wächst nicht nur zwischen Regierung und Haredim, sondern auch innerhalb der ultraorthodoxen Führungsriege selbst. Zum ersten Mal zeigt sich ein offener Dissens zwischen den Oberhäuptern von „Degel HaTorah“: Rabbi Moshe Hillel Hirsch plädiert für das Verbleiben in der Koalition – selbst angesichts von Verhaftungen. Rabbi Dov Landau hingegen fordert eine klare Deadline. Ohne Einigung müsse man austreten, meint er. Der Streit geht tief – und spiegelt ein zunehmendes Unbehagen mit der politischen Taktik wider.

Netanjahu plant längst das nächste Manöver

Netanjahu seinerseits spielt auf Zeit. Er weiß, dass er mit dieser Koalition kein Gesetz durchbringen kann, das die massive Ausweitung der Wehrpflicht für Haredim ausbremst – vor allem jetzt, wo Israel 450.000 Soldaten für den Krieg braucht. Gleichzeitig fürchtet er die Wut der säkularen Mitte und der nationalreligiösen Rechten, wenn er das Gesetz vorantreibt. Also zielt er auf etwas anderes: Zeit schinden, das Plenum verstreichen lassen – und den Bruch mit den Haredim, wenn nötig, als bewusste Entscheidung verkaufen. Aber nicht jetzt.

Denn sollte es zu Neuwahlen kommen, will Netanjahu bestimmen, worüber das Land spricht. Und sicher nicht über die Wehrpflicht, bei der er keine Lösung anbieten kann. Viel lieber würde er über Sicherheit, Iran oder die palästinensische Frage in den Wahlkampf ziehen. Themen, bei denen er stark erscheint.

In der Zwischenzeit versucht er, die Haredim mit Versprechungen zu besänftigen. Budgetangebote, Ausschussgründungen, symbolische Schritte. Am Dienstag nach Schawuot soll es ein letztes Treffen geben – ein letzter Versuch, zehn weitere Tage zu gewinnen. Doch auch das scheint fraglich. Denn diesmal ist das Vertrauen in ihn so brüchig wie nie.

Zerreißprobe für die Koalition

Parallel schärft sich die Position von Finanzminister Bezalel Smotrich. Noch vor zwei Wochen war er bereit, Netanjahu bei einem Waffenstillstand mit der Hamas auf Basis des „Witkoff-Plans“ freie Hand zu lassen. Jetzt aber lehnt er einen Kompromiss kategorisch ab. Sein Argument: Die Umstände haben sich geändert. Die Armee ist tief in Gaza, die humanitäre Versorgung läuft. Ein Rückzug jetzt wäre „ein fataler Fehler“.

Und in der Opposition? Auch dort wächst die Nervosität. Yair Golan, der provokante ehemalige General und linke Politiker, sorgt regelmäßig für Kopfschmerzen bei Benteleuten wie Naftali Bennett und Avigdor Lieberman. Seine polarisierenden Aussagen drohen, den rechten Rand der politischen Mitte abzuschrecken – genau jene 4–5 Mandate, die bei der nächsten Wahl das Zünglein an der Waage sein könnten.

Was bleibt?

Ein Premier auf der Flucht vor einem Gesetz, das er offiziell befürwortet. Ultraorthodoxe Führer, die sich uneins sind, ob sie den Druck erhöhen oder den Rückzug antreten sollen. Und eine Gesellschaft, die zwischen Sicherheitskrise, religiösem Sonderstatus und wachsendem Vertrauensverlust in die politischen Institutionen zerrieben wird.

Netanjahu hat einen Plan – aber keiner weiß, ob er aufgeht. Klar ist nur: Die Rechnung, das Thema Wehrpflicht irgendwie bis zur nächsten Wahl totzuschweigen, wird für ihn jeden Tag schwieriger. Denn diesmal, so scheint es, verlangen selbst die geduldigsten Bündnispartner einen echten Preis.

Autor: Redaktion

Artikel veröffentlicht am: Freitag, 30. Mai 2025

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