„Geisel oder Sieg“ – Warum Israels Verhandlungsstrategie gescheitert ist
Die Gespräche sind gescheitert, die Geiseln bleiben in der Hölle von Gaza, und Israel steht vor einer folgenschweren Entscheidung, die kaum jemand laut auszusprechen wagt: Retten wir unsere Bürger oder beenden wir Hamas? Beides zugleich ist nicht mehr möglich.

Während im Süden weiter gekämpft wird und internationale Stimmen zunehmend auf einen Waffenstillstand drängen, schlägt Dr. Avner Saar, Verhandlungsexperte am Western Galilee Academic College, Alarm: Israels Verhandlungsstrategie sei krachend gescheitert. In einem Interview mit der Zeitung Maariv warnt er vor einer strategischen Sackgasse – und fordert eine Entscheidung, die Politik, Militär und Gesellschaft spalten dürfte: Entweder Israel setzt alles daran, die verbleibenden Geiseln freizubekommen – oder es entscheidet sich konsequent für die vollständige Zerschlagung der Hamas.
Saar benennt das, was viele Politiker vermeiden zu sagen: Der Versuch, beides gleichzeitig zu erreichen – Menschenleben zu retten und militärisch den Feind vollständig zu besiegen – habe zu einer gefährlichen Lähmung geführt. „Das Festhalten an beiden Enden des Spektrums“, so Saar, „führt zu strategischer Orientierungslosigkeit, Ressourcenverschwendung und letztlich zum Verlust beider Ziele.“
Das Geisel-Dilemma: moralisch richtig – strategisch lähmend
Im Zentrum dieses Dilemmas steht ein grausamer Trumpf: die Geiseln. Dutzende israelische Bürger – Frauen, Männer, Kinder, Soldaten – befinden sich seit Monaten in der Gewalt der Hamas. Für die Terrororganisation sind sie kein menschliches Leid, sondern ein „erstklassiges strategisches Asset“, wie Saar es ausdrückt. Die Geiseln dienen als Druckmittel, um politische und militärische Vorteile zu erzwingen, die israelische Gesellschaft zu spalten und die internationale Kritik an Israel zu verstärken.
Solange auch nur ein Israeli in einem Kellerverlies in Gaza leidet, ist die Regierung unter enormem moralischem Druck – und das weiß die Hamas. Sie kann Forderungen in die Höhe schrauben, in der Gewissheit, dass Israels politische Führung nicht den Mut aufbringen wird, das Unerträgliche zu tun: Nein zu sagen.
Doch genau das führt laut Saar zur jetzigen Blockade. „Je mehr Hamas überzeugt ist, dass Israel nach einem Deal wieder zuschlagen wird, desto unnachgiebiger wird ihre Haltung“, erklärt der Experte. Die Terrororganisation hat kein Interesse an einem Deal, der ihren Tod bedeutet. Sie verhandelt kalt und kalkuliert – mit dem Wissen, dass Zeit für sie arbeitet.
Zwei Ziele, ein Widerspruch
Diese Einsicht trifft mitten ins Herz israelischer Politik. Denn Israels Regierung hat sich öffentlich beides auf die Fahnen geschrieben: Die Rückkehr aller Geiseln und das endgültige Ende der Hamas. Doch die Realität auf dem Verhandlungsparkett zeigt, was Experten schon lange befürchten: Beides ist nicht gleichzeitig erreichbar.
Die Rückführung der Geiseln erfordert Verhandlungen, Konzessionen, mitunter sogar einen Waffenstillstand. Die vollständige Zerschlagung der Hamas aber setzt anhaltenden militärischen Druck voraus, ohne Pausen, ohne Rücksicht. Jedes Zugeständnis an die Hamas verlängert deren Überlebenszeit – jeder militärische Schlag verschlechtert wiederum die Bedingungen für eine Freilassung von Geiseln.
Dr. Saar bringt es auf den Punkt: „Es ist Zeit für eine kompromisslose strategische Entscheidung.“ Doch diese Entscheidung ist kein militärischer Befehl, kein taktisches Manöver – sie ist eine nationale Gewissensfrage. Welche moralische Priorität steht an erster Stelle: Leben retten oder den Feind besiegen?
Ein gefährlicher Stillstand
Während sich Israel schwer tut mit dieser Entscheidung, gewinnt die Hamas weiter an Zeit, an Symbolik, an Deutungshoheit. International wird zunehmend über israelisches Vorgehen diskutiert, nicht über die Grausamkeit der Geiselnehmer. Die innerisraelische Debatte wird hitziger: Familien der Geiseln drängen auf Abkommen, Sicherheitskreise warnen vor gefährlichen Illusionen.
Saar sieht einen weiteren strategischen Fehler: „Die Wartezeit nutzt Hamas. Nicht Israel.“ Denn während Israel auf einen akzeptablen Deal hofft, konsolidiert sich die Terrororganisation, bereitet sich auf das nächste Kapitel vor – oder auf das nächste Narrativ für die Weltöffentlichkeit.
Doch so paradox es klingt: Beide Seiten haben nach wie vor ein Interesse an Verhandlungen. Israel will seine Geiseln zurück – Hamas braucht politische Legitimität, internationale Anerkennung, das Überleben ihrer Führungsstruktur. Doch dieses gemeinsame Interesse allein reicht nicht aus, solange Israels politische Führung keinen klaren Weg wählt.
Was jetzt folgen muss
Saar spricht eine unbequeme Wahrheit aus: Die politische Führung muss sich ehrlich machen. Eine Entscheidung muss gefällt werden – nicht hinter verschlossenen Türen, sondern offen, nachvollziehbar und mit dem Mut zur Verantwortung. Das Land braucht eine klare Linie, nicht länger doppelte Botschaften, nicht länger moralische Schizophrenie.
Wenn Israel sich für die Geiseln entscheidet, wird es einen hohen Preis zahlen müssen – in Form von Zugeständnissen, internationaler Kritik und dem Risiko, dass Hamas gestärkt aus dem Konflikt hervorgeht. Wenn es sich für den vollständigen Sieg entscheidet, wird das bedeuten, bewusst auf das Leben der Geiseln zu verzichten – mit allen seelischen und politischen Folgen.
Beides ist schwer. Aber noch schwerer ist das aktuelle Vakuum, in dem Hoffnung und Härte sich gegenseitig blockieren – und am Ende genau das zerstören, was Israel zu schützen versucht: sein moralisches Rückgrat und seine Sicherheit.
Autor: Redaktion
Artikel veröffentlicht am: Mittwoch, 6. August 2025