Selma van de Perre: Die unbeirrbare Stimme des Widerstands
Sie überlebte Ravensbrück, täuschte die Gestapo, kämpfte gegen die Nazis – und mahnte ein Leben lang, was geschehen kann, wenn Menschen wegsehen. Selma van de Perre, jüdische Widerstandskämpferin und Holocaust-Überlebende, ist im Alter von 103 Jahren in London gestorben.

Sie war eine Frau, die der Geschichte ins Auge blickte – und sich nie abwandte. Selma van de Perre, geboren 1922 in Amsterdam, war siebzehn Jahre alt, als die Wehrmacht in die Niederlande einmarschierte. Ihre Jugend fiel in die finstersten Jahre Europas, doch anstatt zu fliehen, ging sie in den Untergrund. Unter falschem Namen, mit gefälschten Papieren und blond gefärbtem Haar arbeitete sie für den niederländischen Widerstand, schmuggelte Botschaften, Flugblätter und geheime Dokumente – oft quer durch das besetzte Land.
Ihr Mut war umso bemerkenswerter, weil er aus der Verzweiflung geboren war. Ihre Eltern und ihre Schwester Clara wurden verraten, deportiert und ermordet – der Vater in Auschwitz, Mutter und Schwester in Sobibor. Selma überlebte, weil sie ihre jüdische Identität unter dem Decknamen „Marga van der Kuit“ verbergen konnte.
Verraten, verhaftet, überlebt
1944 wurde sie schließlich gefasst. Nur ein Zufall rettete ihr das Leben: Die Gestapo hielt sie für eine politische Gefangene, nicht für eine Jüdin. So kam sie nach Ravensbrück, in das berüchtigte Konzentrationslager für Frauen. Neun Monate überlebte sie dort – halb Mensch, halb Schatten, wie sie später schrieb –, bis der Schwedische Rote Kreuz sie im April 1945 befreite.
„Wir waren abgemagert, schwach, aber lebendig“, erinnerte sie sich Jahrzehnte später. „Ich habe überlebt, während so viele, die mutiger waren als ich, es nicht taten.“
Vom Widerstand zur Wahrheit
Nach dem Krieg kehrte sie in die Niederlande zurück – allein. Ihr Zuhause war leer, ihre Familie ausgelöscht. 1947 zog sie nach London, arbeitete zunächst an der niederländischen Botschaft, später als Lehrerin und Journalistin bei der BBC. Dort lernte sie ihren Mann, den belgischen Journalisten Hugo van de Perre, kennen.
Sie blieb ihr Leben lang eine Kämpferin – nicht mehr mit gefälschten Papieren, sondern mit Worten. In Schulen, Universitäten und Gedenkstätten erzählte sie ihre Geschichte, nicht um Mitleid zu wecken, sondern um Verantwortung einzufordern.
In ihren Erinnerungen schrieb sie:
„Die Menschen folgen Diktatoren, bevor sie verstehen, was geschieht. Wenn sie endlich aufwachen, ist es zu spät.“
Dieser Satz, so schlicht und wahr, wurde zum Leitmotiv ihres späten Lebens.
Eine Stimme gegen das Vergessen
Ihr Engagement machte sie zu einer der bekanntesten Zeitzeuginnen der Niederlande. 1983 erhielt sie das „Resistance Memorial Cross“, 2021 den Orden von Oranien-Nassau. Ihr Buch „My Name Is Selma“ – in Deutschland unter dem Titel „Mein Name ist Selma“ – wurde in mehrere Sprachen übersetzt und gilt heute als eines der eindrucksvollsten Zeugnisse weiblichen Widerstands im Zweiten Weltkrieg.
Bis ins hohe Alter reiste sie jedes Jahr nach Ravensbrück, sprach mit Schülern über die Grausamkeit und die Gleichgültigkeit, die sie dort erlebt hatte. Sie tat es leise, aber unnachgiebig. Keine Pathos, kein Hass – nur die Überzeugung, dass Wahrheit allein nicht reicht, solange sie niemand hören will.
„Nie wieder“ – als Lebensauftrag
Selma van de Perre war keine Heldin im klassischen Sinn. Sie war eine junge Frau, die gezwungen war, sich zwischen Angst und Gewissen zu entscheiden – und die das Richtige tat, als es am gefährlichsten war.
Mit 103 Jahren ist sie in London gestorben, der Stadt, die ihr zur zweiten Heimat wurde. Sie hinterlässt keine Kinder, aber ein Vermächtnis, das Generationen überdauern wird: den Glauben, dass Widerstand möglich ist – selbst gegen das Undenkbare.
Autor: Redaktion
Bild Quelle: Von Roger Green - Selma van de Perre at the 2022 Chiswick Book Festival, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=123132377
Artikel veröffentlicht am: Donnerstag, 23. Oktober 2025